Über alles die Pflicht

Als Renate von Waldstein in Begleitung ihres kränkelnden Onkels das Seebad Dalmaren besucht, fliegen der jungen Frau die Herzen der männlichen Kurgäste nur so zu – sehr zum Neid der übrigen Damenwelt, die sich einig ist, dass Renate zwar als durchaus ansehnlich, keinesfalls aber als hübsch gelten kann. Doch als resolute Streiterin für Wahrheit, Recht und Pflicht sticht Renate unter den übrigen, nur zu oft auf bloße Äußerlichkeiten und den schönen Schein fixierten weiblichen Besuchern der Insel so wohltuend heraus, dass besonders der Geigenvirtuose Werner Thorsten ihr zusehends verfällt. Schon wird getuschelt, dass sich hier wohl eine Romanze anbahnt, denn auch Renate ist anzumerken, dass sie unter den Avancen des gefeierten Musikers aufblüht, der sich doch zu Beginn des Aufenthaltes so merkwürdig verschlossen und zurückhaltend ihr gegenüber verhalten hatte und nur schwer dazu zu bringen war, überhaupt ein Wort mit Renate zu wechseln. Doch es ist keine Romanze, die sich anbahnt, vielmehr folgt der erste einer Reihe von Schicksalsschlägen, denn Werner Thorstens anfängliche Zurückhaltung hatte einen Grund, einen so schwerwiegenden Grund, der noch dazu an einem Kindheitstrauma Renates rüttelt, dass die schon erträumte gemeinsame Zukunft der beiden Liebenden in unendlich weite Entfernung rückt. Die 1826 in Potsdam geborene Schriftstellerin und Übersetzerin Sophie Alberti (Künstlername Sophie Verena) ist heute nahezu vergessen, obwohl die Berliner Revue ihr bereits zu ihrem Erstlingswerk „Else“ (1856) bescheinigte, sie habe „nicht nur ein Talent zum Arrangieren, (…) sondern sie hat auch poetischen Schwung und Schöpfungsvermögen“. Die Blätter für literarische Unterhaltung bezeichneten Alberti als „ein liebenswürdiges und fleißiges Talent“ auf dem Gebiet der Frauenliteratur. Überarbeitete Fassung mit zusätzlichen Anmerkungen.